Buchvorstellung: Die Hausaufgabe


Das Dörfchen Codreni liegt heute in der Republik Moldawien. Als Nicolae Dabija 1948 dort zur Welt kam, war diese Region fester Bestandteil der UdSSR. Als Journalist, Politiker und Lyriker war und ist Nicolae Dabija tätig. Er gehörte von 1990 bis 1994 und dann wieder von 1998 bis 2001 dem Parlament von Moldawien an. Der ehemalige Abgeordnete ist der Neffe von Serafim Dabija, einem orthodoxen Bischof. Der geistliche Würdenträger kam 1947 in einen Gulag, ein Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion. Erfolgreich studierte Nicolae Dabija Philologie. Nach seinem Studium beschäftigte er sich ausgiebig mit der Geschichte Rumäniens und der Bevölkerung Bessarabiens. Diese Landschaft erstreckt sich im Süden vom Schwarzen Meer sowie den Flüssen Dnister im Osten und Pruth im Westen. Das Fürstentum Moldau trat 1812 die Herrschaft an das zaristische Russland ab. Mehrheitlich wohnen in Bessarabien Rumänen. Ganz kurz währte 1918 die erlangte Unabhängigkeit, ehe es ein fester Bestandteil Rumäniens wurde. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs regierte aus Moskau Josef Stalin diesen neuen Teil der Sowjetunion. 1991 erklärte sich Moldawien und damit auch der Landstrich Bessarabien unabhängig. Die Kultur der dort lebenden Menschen liegt Nicolae Dabija am Herzen. Für sein Engagement sowie sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.


Nicolae Dabija veröffentlichte 2018 seinen Roman „Die Hausaufgabe“, der im Frieling-Verlag in Berlin in der Edition AVRA erschienen ist. Das Werk umfasst 297 Seiten. Die Übersetzung des Romans nahmen Ion Margineanu und Wolfram Nieß vor. Nicolae Dabija macht uns mit dem Waisenkind „Iwan Iwanow 15“ vertraut. Der 12 Jahre alte Junge lebt in einem Nest Namens Nadretschnoje. Im Klassenzimmer, im Schlafsaal und in der Sporthalle schaut gutmütig der liebevolle Genosse Josef Stalin von gemalten Portraits aus freundlich lächelnd die Kinder an. In seiner Hand hält der väterlich wirkende Stalin ein Pfeifchen. Im Waisenhaus leben „bis zu 300 Kinder. So viele Kinder waren wir in Nadretschnoje. Man nannte uns Stalinkinder. 

" Wir wussten, dass unser Vater uns unsagbar liebte und dass er uns nur aus dem Grunde niemals besucht hatte, dass er ein überaus großes Land regierte und er nicht auch Zeit für uns hatte, seine Jungs. Wir warteten jedoch tagaus, tagein auf ihn, in der Hoffnung, dass er eines Tages, ob mit Geschenken oder ohne, auch in Nadretschnoje vorbeischauen würde. Unser Kinderheim sollte uns lehren zu arbeiten, aber vor allem anderen-den Genossen Stalin zu lieben“ (Seite 10). Das Waisenkind „Iwan Iwanow 15“ hat im Gegensatz zu den anderen 299 „Iwan Iwanow`s“ ein Geheimnis zu verbergen. Alle Kinder im Waisenhaus heißen Iwan Iwanow. Sie unterscheiden sich nur von der Zahl hinter ihrem Namen. Mit dem Namen „Iwan Iwanow“ und der betreffenden Nummer wird jedes Kind vom Lehrer, dem Hausmeister, der Direktorin und den Köchinnen angesprochen. Kind „Iwan Iwanow 15“ hat auf seinem Arm eine Tätowierung entdeckt, die er allen Klassenkameraden und den Pädagogen sowie der Genossin Frau Direktorin Ljubow Herbertowna verheimlicht und verbirgt. Dort steht zu lesen MIRCEA. Eines Tages steht ein fremder Mann an der Pforte des Waisenhauses und sucht seinen Sohn, der Mircea heißt. Der Mann stellt sich der Genossin Direktorin Ljubow Herbertowna als „Mihai Ulmu“ vor.  Sie will den mysteriösen Fremden schnell abwimmeln. „Fahren Sie nach Moskau, vielleicht wird man Ihnen dort weiterhelfen“ (S. 13). Mihai Ulmu lässt sich aber nicht abwimmeln. Er kommt täglich bis zur Pforte des Waisenhauses. Um nicht von den Pförtnern vertrieben zu werden, besticht er sie „mit süßen Pflanzenwurzeln“ (S. 14).


Der Autor Nicolae Dabijas schafft es, den Leser bereits nach wenigen Seiten in seinen Bann zu ziehen. Man kann von einem literarischer Genie­streich bei dem Roman „Die Hausaufgabe“ sprechen. Das Werk aus dem Frieling-Verlag in Berlin aus der Edition AVRA ergreift, fesselt, fasziniert den Leser und nimmt ihn auf eine geschichtliche Reise mit. Der blutige Zweite Weltkrieg ist gerade erst beendet worden und in der Stalin-Ära sucht ein Vater im Riesenreich UdSSR nach seinem Sohn Mircea. Der Schriftsteller Nicolae Dabijas bringt dem Leser die Zeit kurz nach Kriegsende in der Sowjetunion und dem zu ihr gehörenden Bessarabien nahe. Er kritisiert und beschönigt nichts. Hier macht sich beim Autor der ausgebildete Redakteur bemerkbar! Als er von „den Gefängnissen auf der Halbinsel Kolyma“ berichtet, diese „Halbinsel Kolyma-dieser Staat im Staate-die ihre ungeschriebenen Gesetze hatte“ und wo „die Absenderadresse ein Postfach in Moskau war, damit niemals bekannt würde, wo sich der Absender tatsächlich befand“ (S. 186) macht sich ganz besonders bemerkbar: Der Autor klagt weder an noch singt er Lobeslieder. Er verzichtet auf Kommentare, das ist sehr wohltuend. Der mündige Leser soll und wird sich schon ein eigenes Bild machen, wie es damals in der UdSSR war. Der Autor teilt mit, was wo wie warum war. Die einzige Fernstraße der Region, die „M 504 Kolyma“ heißt im Volksmund „Knochenstraße“. Mehrere tausende Gefangene kamen beim Bau der Straße ums Leben. Die Region liegt näher am US-Bundesstaat Alaska gelegen als an Moskau.


Der Roman „Die Hausaufgabe“ von Nicolae Dabijas kostet im deutschen Buchhandel 14,90 Euro. ISBN 978-3-946467-47-2.


Text: Volkert Neef/Foto: Frieling-Verlag

Veröffentlicht am 24.08.2020